Donnerstag, 24. Januar 2013

Es wäre gewesen.

Er saß da. er saß da, wo er immer saß, jeden Tag. Jeden Tag, wann immer man in die Nähe von ihm kam, saß er so, wie er jetzt saß. Auf einer niedrigen, schmalen Bank, vermutlich handgezimmert von ihm. Ihre Balken, ohnehin nicht besonders stark gewesen, beugten sich über die Jahre unter seiner Last. Diese Bank, ebenso gebeugt wie er selbst, stand vor einem Haus, aus Feldsteinen und Mörtel zusammengebaut, hier und da musste ein Balken das bereits windschiefe Haus abstützen, dessen Dach mit Holzschindeln bedeckt war. Der kurze, blecherne Schornstein ragte wie ein knöchiger Finger in die Höhe. Insgesamt war nichts gerade, nicht die Bank, nicht die Haus, der Schornstein war seit langer Zeit in einer Schieflage und selbst der Unterstand vor dem Haus sah aus, als würde er gleich umkippen. Und genau unter diesem Unterstand saß er, auf der Bank, ebenso windschief und verfallen wie das Haus selbst. Sein ergrautes und mit tiefen Furchen durchzogenes Gesicht war tief in dem Mantel verborgen, welcher aus dunklem Tuch gefertigt war und ganz und gar um seinen Körper geschlungen. Die knöchernen, dünnen Finger umkrampften einen Stab, auf dem er sich abstützte, obwohl er saß. Der Stab sah aus, als hätte er ihn aus sich selbst erschaffen, krumm, dünn und knorrig, überragte ihn jedoch um einige Zentimeter. Das war nicht der Körpergröße geschuldet, sondern dem gebeugten Rücken, welcher seit jeher Schmerzen verursachte, doch noch nie hat man ihn jammern hören. Überhaupt hat man ihn noch nie gehört. Vor ihm erstrecken sich grüne Wiesen, so weit man sehen kann. Und dennoch hört man die Wellen am Cliff of Moher noch bis zu ihm. Diese drückende Stille, die nur durchbrochen wird, durch den rauschenden Wind oder prasselnden Regen, das blöken eines seiner Schafe oder das Muhen einer der weit entfernten und verirrten Kühe, umgibt ihn, als hätte er die Stille um sich geschlungen, und nicht den Mantel aus dunklem Tuch. So sitzt er da, wenn die Winde die Wolken in wirbelnden und tanzenden Formen über das Land treiben, wenn der Regen in Strömen hernieder geht, auf das Dach prasselt und gegen die Scheiben, die im Mauerwerk eingelassen sind, sich Sturzbäche vom Unterstand ergießen, niemals jedoch scheint er nass zu werden. Selbst wenn die störrischen irischen Winde das Wasser, direkt unter das Dach treiben, sitzt er da, und sei sein Mantel noch zu durchnässt. So sitzt er, dort, jeden Tag. Nur manchmal, an den aller seltesten und schönsten Tagen, wenn im Frühling alle Bäume und Blumen in ihrer ganzen Pracht stehen, und die Sonne in einer freundlichen Milde über die Wiesen streicht, nur dann, sieht man ihn manchmal langsam von seiner Bank aufstehen, sich hinaus auf die Wiese schleppen und die Kapuze abnehme. So hält er dann sein Gesicht mitten ins Licht der Sonne, genießt ihre Wärme und steht da. So wie er sitzt, so steht er. Als würde er niemals etwas anderes tun, als sei sein Leben nur dieses eine, nur dieses sitzen, nur dieses stehen.
Manche sagen, er sei keiner von ihnen, er sei ein Einwanderer, er gehöre nicht hierher. Doch dann, so wird den meisten selbst klar, ist es nicht schlimm das er hier sei. Sein graues, schütteres Haar zeugt von seinem Alter, seine gebückte Haltung von einem harten Dasein, und er fiele niemanden zur Last. Einmal in der Woche erscheint er wie ein Geist im Ort, er kauft seine Vorräte und geht, das Bündel mit Lebensmitteln auf den Rücken. Dann geht er noch ein wenig gebückter.
Doch selbst bei diesen Einkäufen spricht er nicht.
Ein Junge aus der Nähe hilft ihm. Morgens treibt er die Schafe auf die Wiese, Abends holt er sie wieder rein. Und obwohl der Alte niemals ein Wort geredet hat, niemals den Jungen auch nur in die Augen schaute, so sprach doch der Junge mit ihm. Nicht selten saß er direkt neben ihm auf dem Boden, und plauderte. Er plauderte über Leute im Dorf, über seine Freunde, die Schule, Dinge, die einem Jungen wichtig erscheinen.
So unbekümmert er war, so sehr schätze der Junge den Alten jedoch. Der Alte, er war der einzige, dem man alles erzählen konnte, egal, was es war. Er berichtete ihm, von seiner Liebe, seinen Sünden, seinen Eltern. Der Alte jedoch sagte nie ein Wort. Der Alte urteilte nicht, er bewertete nicht, er gab keinen Rat, er schimpfte, schalt und lobte nicht. Nichts von alledem, was ein anderer Mensch tun würde, tat der Alte. Er saß und hörte zu. Und bisweilen war es so, dass der Junge allein dadurch, dass er sich selbst zuhörte, auf die Lösung für das ein oder andere Problem kam. Der Alte war dem Jungen ein Freund, ein Bestandteil im Leben. Nicht selten zweifelte der Junge daran, ob der Alte überhaupt wollte, dass der Junge da war, aber woran hätte man das schon festmachen sollen? Der Alte saß da, wie er immer da saß, und fixierte einen Punkt in der Ferne. Seine Augen, das einzige, was nicht aussah, als sei es mit dem Alten verwittert, waren von einem dunklen Grün, wie die Baumkronen in den Tiefen der Wälder, sie rückten niemals von diesem einen Punkt in der Ferne ab. Oftmals rätselte der Junge, auf was der Alte wohl wartete.
Der Junge wurde älter, und wie der Lauf der Dinge ist, wurde die Zeit knapp. Der Alte musste immer öfter selbst die Schafe herausbringen, und der Junge, wenn er es tat, hatte keine Zeit mehr, um sich neben dem Alten niederzusetzen. Doch irgendwann, irgendwann kam der Junge gar nicht mehr. Er war nun ein Mann, hatte Liebschaften und trank, feierte, war jung und genoss sein Leben. Der Alte verkaufte die Schafe, und war fortan einsam, aber dennoch saß er einfach da, so wie er es immer getan hat, er saß da, und starrte auf den Horizont.
Eines Tages, kam zum ersten Mal seit dem der Alte dort wohnte, ein Brief für ihn an. Der Postbote selbst überreichte ihn, denn der Alte hatte keinen Briefkasten. Er reagierte gar nicht erst, als der Bote neben ihm Stand, erst langsam drehte er den Kopf. Es war ihm ein Gräuel, dass er das Starren unterbrechen musste, dass sah man ihm an. Doch dann erkannte der Alte den Brief in der Hand des Boten und obwohl er noch immer kein Ton sagte, weiteten sich seine Augen und er löste eine Hand zitternd von seinem Stab und streckte sie dem Boten bittend entgegen. Dieser übergab den Brief und wandte sich zum gehen, denn er kannte um die Eigenheiten des Alten und erwartete keine Antwort, als ihn eine heisere, brüchige Stimme, als sei sie seit langer Zeit nicht benutzt worden, innehalten ließ. Der Alte krächzte, mit viel Mühe, ein "D-Danke". Dann erhob er sich langsam und mühevoll und humpelte in sein Windschiefes Haus, das mittlerweile ganz und gar in Efeu eingehüllt war, so wie sich der Alte in seinen Mantel hüllte. Der Bote kehrte ins Dorf zurück und schnell sprach sich rum, dass der Einsiedler endlich geredet habe.
Durch diese Nachricht erinnerte sich der Junge an den Alten und er kehrte zurück zur Hütte. Doch der Alte saß nicht mehr dort. Die Tür war abgesperrt, die Fenster vom Efeu verdeckt, so wandte sich der Junge zu gehen. Doch auch am nächsten und übernächsten Tag kam er nicht wieder. Es fiel niemanden weiter auf, weil der Alte noch nie auffiel, nur der Junge merkte es. Und so brach er irgendwann das Schloss zu Hütte auf, doch es war niemand in dieser Hütte. Der Alte war weg.
Der Junge jedoch wusste, es konnte nur einen einziges Ort geben, wo der Alte sein könnte, und so rannte er, er rannte über die Hügel, die Weiden und Wiesen, er rannte, stolperte und kam völlig außer Atem dort an, wo der Alte immer hinstarrte. Es lag auf einer kleinen Anhöhe, auf der ein Baum sein Geäst in den Himmel streckte, direkt oberhalb der Cliffs of Moher. Und dort, vor dem Baum, dort kauerte der Alte. Eine Hand um den Stab, eine Hand zur Faust geballt an seiner Brust. Doch der Alte war in sich zusammen gesackt, die Hand am Stab kraftlos und alles Leben war aus seinen Augen gewichen. Der Alte war tot.
Kaum das der Junge den Alten berührte, öffnete sich die Faust des Alten und ein Brief, der Brief fiel heraus. In geschwungener, doch ordentlicher Handschrift war mit Tinte der einfache Satz "Es tut mir Leid" geschrieben, unterzeichnet mit einem S.
Der Junge ließ den Alten wo er war. Er sollte genau an diesem Ort, den er gewählt hatte, eins mit der Erde werden, nicht in einem Friedhof. In der Hütte des Alten fand man Tagebücher, es war, als wenn er jeden Tag der letzten Jahrzehnte aufgezeichnet hätte. Er sprach von den Tagen, die er gewartet hatte, auf S, auf eine Art Glücksgefühl, er sprach von dem Jungen, den er einen Freund nannte, den einzigen, den er hatte. Doch er sprach auch davon, dass seine Hoffnung mit jedem Tag immer tiefer in ihm verschwindet, er sprach von dem Jungen, dessen Gesellschaft er vermisste, wie Unerträglich die Einsamkeit ist, und letztendlich sprach er oft von der Zeit. Sein letzter Eintrag war:
"Heute habe ich endlich das bekommen, was ich all die Jahre wollte. Ich wollte nie mehr, als wissen. Ich weiß vieles, aus allen Bereichen des Lebens, doch nie wurde mir eine einzige Frage beantwortet, die ich mir seit Dekaden stelle, doch nun, da diese Frage beantwortet ist, bin ich fertig. Ich weiß nicht, ob ich meine Zeit nicht besser hätte nutzen sollen. Ich hätte sie darauf verwenden können, zufrieden zu werden, erfolgreich zu werden, anstatt meine Zeit mit sitzen und warten zu vergeuden. Doch Zeit ist das wohl subjektivste das es gibt. So vergeht für einem die Zeit wie im Flug, man nehme nur den Jungen. Täglich spricht er mit mir, erzählt mir alles was ihn bewegt, doch nicht davon hat Bestand für ihn, da die Zeit für ihn viel zu schnell vergeht. Eine Stunde hatte für ihn die Wirkung, als sei es eine unüberwindbare Zeit, doch sieh mich im Vergleich an. Ich warte bereits Jahrzehnte, und eine Stunde hat keine Bedeutung mehr für mich. Und doch, mit dieser Antwort, ist mein Warten sinnvoll geworden. Ich habe meine Zeit verbraucht um zu warten, wenn ich das bekam, auf das ich wartete, dann war meine Zeit auch sinnvoll verwendet. Ich kann nun erfüllt und glücklich sterben, weil ich das bekommen habe, was ich wollte. Warum hätte ich versuchen sollen, mir Ziele zu stecken, die ich niemals hätte erreichen können? Mein Versagen hätte mich unglücklich gemacht. Und dennoch, wenn es eine Sache gegeben hätte, für die ich mit einem Menschen gesprochen hätte, dann, um ihn zu sagen, wie wertvoll die Zeit ist. Ich habe jede Sekunde, die ich hier verbracht und gewartet habe, genossen. Ich habe jede Sekunde wahrgenommen, doch zuviele Menschen dieser Welt rauschen einfach an sich selbst vorbei. Sie haben keine Zeit und nehmen sie sich auch nicht, um sie selbst zu sein. Sie alle müssen arbeiten und sind eingebunden in die Gesellschaft, doch was hat derarter Zeitverlust für einen Sinn, wenn ich dabei nicht glücklich werde? Der ein oder andere mag glücklich sein und auch werden, doch die Mehrzahl wird weiterhin über alles jammern, am meisten darüber, dass sie ihre Kinder kaum noch sehen. Sie alle haben vergessen, wie wertvoll Zeit ist, und dass man sie sich nehmen muss, wenn man glücklich sein möchte. Sie haben es vergessen, doch ich nicht. Ich habe meine Zeit dazu genutzt, glücklich zu werden, und erstmal seit Jahrzehnten bin ich es. Glücklich."

Eine Kurzgeschichte von mir, Nerevar.

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