Dienstag, 12. Januar 2021

Statt Clara II

Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Dass ich versucht habe, mich umzubringen? Dass ich Wochen in der Klapse saß? Dass meine Karriere als Journalist von einem chinesischen Fledermausvirus zur Hölle geschickt wurde, und ich jetzt in trauriger Eintönigkeit bald ein Leben als uniformierter Wachmann auf dem Gelände eines namhaften Getränkeherstellers fröhne? 12 Stunden Arbeit am Tag. Die Hälfte meines Lebens während einer irdischen Rotationsperiode.

Dass ich noch immer in Behandlung bin, fruchtlos? Dass ich, praktisch nach Zeitplan, nach wie vor suizidal bin? Dass ich emotional und psychisch mittlerweile so abgestumpft bin, dass mich selbst der Tod meines ungeborenen Kindes kaum noch berührt? Denn ja, auch das ist passiert.

Mein Leben ist eine riesige Reihe von zynischen Witzen auf meine Kosten. Mein bester Freund, er wohnt über mir, und völlig verwahrlost, abhängig und suizidal. Mein Bruder, suizidal, depressiv, drogenabhängig. Der gude Jakob, eingespannt von Beruf, Frau, Kindern, für mich seltener zu sehen und zu sprechen als ein Einhorn.
Ich sitze alleine hier, wie immer. 

Aber von Beginn an. Es war mein Geburtstag, ich war alleine zuhause. Die Krise meiner Ehe auf dem Höhepunkt, die Angetraute nicht mehr willens, dies auch zu bleiben. Du kennst das Thema, dass dort zu diesem Zeitpunkt herrschte. Ich war das ganze Wochenende meines Geburtstages allein. Ganz allein. Und erstmals in meinem Leben, habe ich vollständig den Verstand verloren. Ich schrie, weinte, tobte, den ganzen Tag. Ich wachte heulend auf, und schlief ein mit den Händen in den Haaren verkrallt. Ich schlug gegen Wände, ich trat gegen Türen. Ohrenbetäubend lief "I'm am Henry the Eight I am!" in Dauerschleife, und ich, ich sang offenbar mit. So ganz erinnere ich mich nicht mehr, verschwommen die Bilder, wie ich, mit dem Gesicht an der Wand durch die Wohnung laufe, schreiend.

"ICH BIN HEINRICH DER ACHTE ICH BIN! HEINRICH DER ACHTE ICH BIN, ICH BIN! ICH WAR VERHEIRATET ZU DER WITWE NÄCHST' TÜR, SIE WAR VERHEIRATET SIEBEN ZEITEN ZUFÜR!

UND JEDER EINE WAR EIN HEINRICH, SIE WOLLTE HABEN KEINEN WILHELM, KEINEN SAM!"

Das wurde bemerkt. Jakob wurde gerufen. Jakob kam, da lag die Leine schon über der Duschkabine und war am Wasserhahn festgeknotet. Es wären 10 Minuten gewesen, dann wäre ich tot. 
Stattdessen ließ ich mich einweisen. Es ist halt nicht alles Gold, was glänzt.

Mit meinem eigenen Bettzeug tauchte ich auf, unangekündigt. Das käme nicht oft vor, wurde mir gesagt. Noch nie hätte jemand sein eigenes Kopfkissen mitgenommen. Amüsiert war man. Gut, mit einem Lacher anzufangen.

Was passiert ist, wurde ich gefragt. Ich konnte nur schluchzen. Man unterhält sich, lange. Sehr lange. Die Ärzte müssen feststellen, ob eine Selbstgefährdung vorliegt, sonst muss man nach Hause. Ich musste nicht.
Tavor, eine Nacht auf dem Flur, unter Beobachtung. Irre und Geisteskranke, Alkoholiker und Paranoide, wackeln an dir vorbei, keiner beachtet dich. Seltsam, dass jeder dort ist, weil er irre ist. Irgendwie befreiend, mal IRRE sein zu DÜRFEN, weil man dafür da ist. Aber die Tavor sorgt schon dafür, dass man nicht durchdreht.

An sich war die Klapse eine gute Zeit. Produktive Zeit. Die leider zu schnell endete. Corona kam, und machte mir einen Strich durch meine Planung, noch einen stationären, längeren Aufenthalt in 2020 einzulegen. Vieles kam kurzfristig ins Lot - doch noch mehr hat sich nicht geändert. Ich kämpfe weiter mit mir den immer gleichen Krieg, mit den immer neuen Waffen, auf immer lebensfeindlicheren Schlachtfeldern, mit immer ausgemergelten Truppen, im ewigen Abwehrkampf gegen den glühenden Wahnsinn. Gegen Heinrich, den 8ten, der schreiend seinen Tribut fordert, an jedem Tag.

Mein Job ist vorbei, Corona sei "Dank". Durch die Depressionen war ich allerdings schon lang nicht mehr in der Lage, regelmäßig zu arbeiten. Schulden und Geldprobleme waren die Folge, die Gedanken wurden weggekifft. Nach einem Jahr des NEETens habe ich ein Praktikum bei einem Sicherheitsdienst gemacht. Und mein Gott, ich könnte ewig referieren über die Frage, ob ich damit einen Riesenfehler mache.

Ich spar es mir aber. Ich muss es ja sowieso tun, ich hab keine andere Wahl. Vielleicht ist dies jenes große Damoklesschwert, das über mir schwebt: Ich bin nicht mehr weit davon entfernt, einfach aufzugeben, in mich zusammen zu sagen, nie wieder nachzudenken und einfach ein Drohnenleben zu leben. NPC werden, Nebendarsteller, den Storyark weiterreichen. Einfach nur atmen, gehen, gucken, fressen, scheißen und schlafen. Bis ich tot umfalle, ohne mir Gedanken zu machen, ob ich glücklich bin. Denn mittlerweile wird mir klar, ich werde nicht mehr glücklich.

Mein Kind ist gestorben. Zum Monatswechsel Oktober/November diesen Jahres. Ich wusste nichtmal, dass es da ist. Eileiterschwangerschaft, 7te Woche. Ist geplatzt. Not-OP. Corona, kein Besuch. Ich wusste von nichts, bekam einen Anruf. Meine Frau ist auf der Arbeit mit inneren Blutungen kollabiert. Schwangerschaft festgestellt, Eileiter entfernt. Trauma. Für alle Beteiligten.

Es war der letzte Dominostein in einer Kette aus Scheiße. Er brachte das Fass zum überlaufen. Seit diesem Tag denke ich nicht mehr. Denn ich kanns nicht. Wenn ich es täte, dann würde ich irgendwann begreifen. Ich würde erfassen, verstehen. Ich würde anfangen zu fühlen, wirklich zu fühlen. Den Schmerz, die Trauer. Das unendlich laute Brechen meines Herzens müsste ich hören.

Ich habe geweint deswegen. Ich habe mich scheiße gefühlt, mich besinnungslos gesoffen und gekifft, aber nicht wirklich ~begriffen~, was all das wirklich heißt. Da sind nicht nur DNA, Zellen und rudimentäre Organe gestorben. Es ist ein Teil von mir gestorben, ein Hauch einer Ahnung eines besseren Lebens, eines Lebens mit einem Grund. Einer Aufgabe, einem Ziel, einen Angelpunkt, der nicht so belastet ist, wie meine Ehe. Ein Stück von mir auf Erden, das nicht ich bin. Etwas, das ich lieben könnte, so innig und aufrecht und ohne jeden Vorbehalt, dass ich ein anderer geworden wäre. Etwas, dass meinen Leben endlich einen Zweck gegeben hätte. Ich vermeide das Wort "Sinn" an dieser Stelle bewusst, denn kein Leben hat irgendeinen "Sinn". Aber ich hätte mir einen Zweck geben können.

Stattdessen verbleibe ich hier. Zwecklos, akut mit Tränen in den Augen und einem stockendem Herzen, einem glühenden Magen, doch voller Ignoranz für die wahren Emotionen unter der körperlichen Reaktion.

Ich will nicht mehr. 

I am Henry the Eight, I am!
Henry the Eight I am, I am!
I was married to the widow next door,
She was married seven times before.

And everyone was a Henry
She wouldn't have a Willie or a Sam
I am her eighth old man, I'm Henry

Henry the Eight I am.



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