Sonntag, 31. Januar 2021

Statt Clara, III

 Es ist einer der schlimmsten Tage seit langem. Ich stürze in ein finsteres, tiefes, unaufhörliches Loch in mir selbst. Ich falle, immer schneller und immer tiefer und hoffe auf den Aufschlag, der Aufschlag, der mich zerschmettert und das Gefühl des freien Falls beendet.

Es ist ein wiederkehrendes Muster. Wann immer ich das Gefühl habe, auf den Endpunkt zuzusteuern, wenn ich mich durch meine tiefsten und dunkelsten Gehirnwindungen kämpfe, meine Dämonen mit hässlichen Fratzen an meinem Fenster vorbeiziehen, Grimassen schneidend und mich verhöhnen, wenn ich das Gefühl habe, den toten Punkt erreicht zu haben, dann schreit ein Teil nach dir. Immer nach dir.

Denn du kennst mich, du kennst meine Dämonen. Du kennst mich länger und tiefer als mein bester Freund. Ich habe dir alles gezeigt, so wie du auch mir. Ich weiß, dass du mich verstehst, wenn ich mich selbst nicht mehr verstehe. Und so zieht es mich auch jetzt in Gedanken zu dir, der einzigen, von der ich nie etwas hörte, was mir schadete.

Ich zweifle langsam. Ich zweifle an den Entscheidungen, die ich traf, die Weichen, die ich gestellt habe. Die Dinge, die ich aufgab, die, die ich aufnahm. Es stellt sich mir mehr und mehr die Frage, ob meine Situation nicht einfach die logische Folge falscher Entscheidungen ist. Denn bisher gab es unantastbare Überzeugungen in mir. Dinge, in denen ich den Fehler nie suchte, weil das Dogma es verbot.

Aber denke ich nach, so erkenne ich Optionen. Alternative Wege, die ich ausschlug, weil ich vom Dogma geblendet ihre Wirksamkeit nicht erwog. Jetzt zeigt sich, auch dass Dogma hat zu nichts geführt. 

Sie ist depressiv, schwer und zerstörerisch. Wir haben unser Kind verloren, und sie zugleich alle Hoffnung. Sie hat sich aufgegeben, so wie den Glauben an eine Zukunft. Ich selbst bin wegen dem, was passierte, ein Wrack. Ich habe meine eigenen Scherben noch nicht aufgehoben und schneide mich an ihren.

Ich stumpfe ab. Ich denke nicht mehr. Ich versuche nicht zu fühlen. Ich versuche nicht mehr "da" zu sein. Ich versuche, zu vermeiden. Alles zu vermeiden, die Realität auszusperren.

In mir tobt der Kampf des Determinismus gegen den Fatalismus.

Ich war stets Fatalist - unsere Aktionen und Handlungen simulieren nur einen Einfluss unsererseits auf das Endergebnis, das in Wahrheit schon lange und unumstößlich feststeht. Alles entwickelt sich auf diesen Punkt zu und je mehr man versucht, ihm aus dem Weg zu gehen, desto größer die Enttäuschung. Ich fand leicht zu beobachten, dass das Universum fatalistisch sei - der größte Fatalismus ist die Lebensspanne des Menschen an sich.

Nun aber frage ich mich, ob meine Entscheidungen, wie z.B. meine Heirat, zu dem Punkt führen MUSSTEN, an dem ich jetzt bin. Denn das bedeutet, dass ich erstens eine Eigenverantwortung an den Ereignissen habe und zweitens es voraussehbar war.

Wenn ich dieser Betrachtung zustimme, dann öffne ich dem Unheil Tür und Tor in meine Psyche. Denn dann müsste ich mich fragen, welche meiner Entscheidungen wohin geführt haben, welche man revidieren, welche rückgängig machen kann.

Und nun sitze ich hier, wissend, dass niemand außer mir das wirkliche Ausmaß des Scheißeorkans in meinem Leben abschätzen kann, dass mir deswegen niemand einen Rat geben kann, von dem ich ausgehen kann, dass er alle zu bedenkenden Faktoren einberechnet hat, und frage mich:

War meine frühe Heirat ein Fehler? War es naiv und blauäugig? Hätte ich es anders machen sollen? Hätte ich das alles auf mich nehmen sollen? 

Ich hatte ja alles - eigene Wohnung, eigenes Geld, Möglichkeiten zur Entfaltung allenthalben.

Und dennoch ist mir heute klar, dass es teils meine Komplexe, Sehnsüchte und tief innewohnenden Schäden waren, auch verursacht von meiner ersten Beziehung, dass ich die Gewissheit wollte, die Sicherheit, jemanden neben mir zu haben.

Und während ich nach wie vor glaube, dass ich das Ausmaß der Entscheidung schon irgendwie verstanden habe, bin ich mir manchmal nicht sicher, ob sie sich dessen auch bewusst war.

Und heute, heute leben wir seit 6 Jahren zusammen. Und ich weiß, ich gehe nicht. Nicht, weil ich nicht den Impuls hätte, nicht, weil ich nicht jede Menge guter Gründe hätte, zu gehen, nicht, weil ich mir nicht manchmal sehnsüchtig ein Leben in Ruhe und Einsamkeit vorstellen kann - sondern weil ich, wann auch immer, ein guter Ehemann bin. Weil ich gewisse Prinzipien habe.

Und die hat sie nicht. Nie würde ich meine Launen an ihr auslassen. Nie würde ich etwas sagen, nur im Bestreben, sie zu verletzen. Nie würde ich sagen, dass ich "nichts und niemanden" im Leben hätte - ich habe ja sie. Ich lebe  wann immer ich kann nach dem kategorischen Imperativ:

HANDLE NUR NACH DERJENIGEN MAXIME, VON DER DU WOLLEN KANNST, DASS SIE EIN ALLGEMEINES GESETZ WÜRDE.

oder für die dümmlichen:

WAS DU NICHT WILLST DAS MAN DIR TU, DAS MACH AUCH KEINEM ANDEREN ZU!

Das gelingt nicht immer, aber es gelingt mir immer bei ihr. Ich würde sie niemals so behandeln, wie ich selbst die Behandlung nicht ertrüge.

Umgekehrt ist das ein Pustekuchen. Im Gegenteil. An mir darf man kritisieren, obgleich es schon immer so war. An mir darf man seine Wut auslassen, obgleich ich nichts mit ihr zu tun habe.

Wenn sie toxisch ist, mir wehtun will um des Wehtunswillen, sagt sie ja gerne, ich würde mich für den besseren halten.

Die Wahrheit ist, ich bin seit langem der Bessere. Ich seziere jeden Streit und Disput in meiner Therapie. Und ich bin der, der rational handelt. Ich bin der, der deeskalierend wirkt. Ich bin der, der das anerkennende Lob bekam, dass selbst in meinen Momenten allergrößter Wut auf sie, ich noch immer ihre Position sehe, verstehe und vor mir selbst verteidige. Ich bin ein "Über-Ehemann", wie mir gesagt wurde. Nie geht ein Konflikt von mir aus, nie eine Aggression. Noch nie wollte ich eine Veränderung, nie ein anderes Verhalten erzwingen. Ich nahm sie, wie sie kam und nehme sie, wie sie jetzt ist.

Und mittlerweile weiß ich nicht mehr, ob ich mir nicht selbst dafür zu Schade bin, nicht die gleiche Behandlung zu bekommen, die ich gebe. Denn zur Zeit bin ich ihr Fußabtreter. 

Ich spiele wieder WoW und gehe mit meiner Gilde raiden. So auch kürzlich. Ob sie mitkommen wolle? Natürlich nicht. Sie war ja schon mit; aber wenn man ihr nicht den Arsch pampert und haarklein lobt, was sie gut macht, dann ist es ja nichts mehr für sie. Sobald nur ein bisschen Anspruch an sie gestellt wird, ist sie raus. 

Egal, kein Grund für mich, nicht trotzdem zu raiden. Das tat ich auch, wie angekündigt vom 19:30 bis 22:30. Madame ging demonstrativ um 17:45 ins Schlafzimmer. Ich nahm an, sie wolle schlafen; aus diesem Grund geh ich dorthin.

Um 23:00 empfing mich Madame wach und verließ das Schlafzimmer, als ich die Frage ob ich schlafen wolle, bejahte (überraschend, was?). Es entspann sich ein 4 stündiger Dialog via Chat, in dem ich nicht nur für mein angekündigtes und völlig alltägliches Verhalten kritisiert wurde (sie sei nicht meine Bitch, die auf mich wartet), ging es auch noch in die Zukunft (wenn ich arbeite, werde ich nur noch zocken und arbeiten) und natürlich bin ich fürchterlich öde und verantwortlich für ihr ödes Leben, weil ich keinen Freizeitbespaßungsplan für Madame ausgearbeitet habe und eigene Hobbys habe, zu denen sie sie zu finden nicht in der Lage ist.

Warum ich dann ihre Bitch sein sollte, die sich den ganzen Tag um die Beschäftigung einer Erwachsenen kümmern sollte, erschloss sich nicht. Es ging ohnehin nur darum, mich zu verletzen. Um nichts anderes - sie leidet, also darf niemand nicht leiden.

Ich weiß nicht mehr wohin. Manchmal wünschte ich, ich hätte mich Veltheim 2014 einfach an dich gehangen. Dann wären Riesenkelche an mir vorbei gerollt.

Ich kanns halt nicht mehr. Mein Leben war schon immer ein Trümmerfeld, doch jetzt ist es bis in die letzten Winkel verstrahlt und verseucht - nicht einmal meine Beziehung ist noch ein ruhiger Hafen in stürmischer See, die Kaimauer ist gebrochen und die Wellen lecken gierig an der Deichkrone.

Irgendwann, dann platzt der Knoten. Und dann knote ich mich auf. Es gibt einfach nichts mehr im Leben. Ich bin selbst zu depressiv um mit dem Hund zu gehen. Mein Leben verwest um mich herum.


Jede Nacht träume ich mittlerweile von dir. Nicht nur, auch anderen. Vielen Menschen aus meiner Vergangenheit. Und jeden Morgen wache ich auf, mit dem Gefühl, dich und sie alle durch mein Aufwachen getötet zu haben.

Wo auch immer du bist, ich werde dich immer ganz tief in meinem Herzen haben. Ich hoffe, Bernd hat dich damals gegrüßt.

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